Schreibübungen

Fiese Geschichten - Texte der LIT-Mitglieder nach acht Vorgaben

Acht spontan gefundene Wörter werden in der Gruppe LIT innerhalb von 30 Minuten zu einer fiesen Geschichte geformt (die entsprechenden Wörter sind fett gedruckt):Antiquitätengeschäft, Holzpferd, Wetterleuchten, singen, flogen, schwarzen, Schokolade, Seepferdchen

 

Dunkel war`s

 

copyright by Eva Horn

 

 

 

Dunkel war`s. 

Frustriert vom langen, stressigen, mies gelaufenen Arbeitstag, war ich begierig auf einen schönen Tagesausklang zusammen mit meiner besten Freundin gewesen, wollte unbedingt endlich mal wieder einen der selten gewordenen Frauenabende genießen! 

Diesen hatte ich viel zu lange ausgekostet und schleppte mich nun, müde und mit schlechtem Gewissen, durch die Straßen auf dem Weg nach Hause. 

Unvernünftigerweise hatten wir zusammen in der Wohligkeit der weichen Couch versunken einen viel zu spät beginnenden Psychothriller, viel zu lange, nämlich doch bis zu Ende gesehen. Ich hatte mich einfach nicht lösen können, die vielen verschiedenen, als Nachspeise angebotenen Schokoladensorten auf dem Tisch, leisteten ihren Beitrag dazu. Warum musste ich auch von jeder einige Stücke probieren? Zu lecker...!

Schwarz war die Nacht. wohl eine der dunkelsten, die ich je erlebt hatte. Vermutlich war es also eine Neumondnacht in der es geschah!

Ich schleppte mich so vor mich hin, müde und vollgefressen. Auf jeden Fall war es bereits weit nach Mitternacht. Immerhin hatte ich nun endlich die kleineren, finsteren Nebenstraßen erreicht, die mit den unzuverlässigen, altertümlichen Gaslaternen, die auch bei vollem Betrieb nur ein gelbliches, eher schummriges Licht erzeugen. Viele, fast alle waren in dieser Straße mal wieder ausgefallen. Der Weg war hier nur teilweise asphaltiert und es gab Löcher und Unebenheiten. Vor kurzem war ich hier aus diesem Grund erst umgeknickt und hingefallen. 

Ich schien die einzige Unvernünftige zu sein, die um diese Uhrzeit  hier noch unterwegs war. Um so gefährlicher, falls man dem Falschen begegnet.

Bis auf das Singen der Nachtigall war nichts zu hören. Fliegen sehen konnte ich sie nicht, aber 

Ihr Gesang wurde lauter und lauter, also kam ich ihr wohl näher und näher.   

Vor allem Täter fühlen sich um diese Zeit sicher, ging es mir durch den Kopf, bin müde, wäre ich doch schon da...

Der Gesang der Nachtigall war verstummt. Stattdessen riss mich ein Wetterleuchten je aus dem Trott denn im selben Moment sah ich kurz, in einiger Entfernung vor mir, den Umriss einer Person mit einem Schwert! Mit einem Schwert?!?

Nun war ich hellwach, was hatte ich da im Wetterleuchten gesehen? War das real, also gefährlich?!, oder eine Einbildung?  Einfach zu viel Psychothriller, ich wollte mich beruhigen.

Doch, leider hörte ich nun auch Schritte, die sich mir näherten, schnelle Schritte! 

Jemand rannte nun sogar auf mich zu!! Das Licht der einzigen Laterne warf mir nun einen langen Schatten entgegen und diese riesiger werdende Schattengestalt fuchtelte tatsächlich mit einem mittelalterlich anmutendem riesigem Schwert herum! Oh weia, ein Durchgeknallter!, mein Herz klopfte bis zum Hals. Ich wollte gerade umdrehen, egal wohin, nur bloß schnell weg von hier, weglaufen! - als der Schatten mir zurief: "Mama, Mama schau mal was für ein tolles Holzschwert ich von Papa bekommen habe!"

Mein Herz raste noch, puh!, mein Sohn das Riesenschattenmonster und jetzt konnte ich auch die Schritte eines folgenden, noch viel größeren Schattenmonsters hören: "Wir dachten, da wir eh nicht schlafen konnten, weil Du noch nicht Zuhause bist, machen wir mal eine kleine Nachtwanderung,"  meinte mein Mann. "Mama, ich habe mein Seepferdchen geschafft und da hat Papa mir das Holzschwert im Antikladen gekauft und wir machen eine Nachtwanderung. So ein toller Tag! " Robert lachte:" Er meint  das Antiquitätengeschäft. Ich wollte Rene eigentlich ein Holzpferd kaufen, aber nun ist es ein Holzschwert geworden.   

Ja, denke ich. Toll, ich hätte fast einen Herzinfarkt bekommen und bin noch immer glücklich, dass ich die 2 Monster so gut kenne.

 

Schutzamulett

 

von Gerhard Weil:

 

Renate, eine erfahrene Antiquarin mit einer panischen Angst vor Gewitter, stürzte aus dem Antiquitätengeschäft auf die noch belebte Straße, nachdem sie direkt hinter dem im Schaufenster stehenden Holzpferd in der Abenddämmerung ein bedrohliches Wetterleuchten aufscheinen sah. Die Stare und Amseln hörten schlagartig auf zu singen und kreischen und flogen aufgeregt zu ihren Schlafbäumen. Da beschloss Renate ihr Geschäft früher abzusperren und vor den herannahenden Blitzen und Donnerschlägen am bedrohlich schwarzen Himmel ihre Wohnung aufzusuchen. Zu Hause wollte sie zur Beruhigung eine Tasse Schokolade trinken, die Jalousien herunterlassen und den Seepferdchen in ihrem Salzwasseraquarium zusehen.

Doch was war das? Mittlerweile krachten die ersten Blitze direkt über ihr, denn der Donner folgte sofort und das Blitzlicht durchbrach die Ritzen der Jalousien und verwandelte die mit Antiquitäten vollgestopfte Wohnung in fahles, unnatürliches Licht. Renate fing wie bei Gewittern üblich an zu zittern, der Angstschweiß stand ihr auf der Stirn und sie verschüttete etwas von ihrem Kakaogetränk. Die alten Einrichtungsgegenstände ihrer Wohnung entwickelten bei der extremen Gewitterbeleuchtung in Renates Augen irgendwie ein Eigenleben und erinnerten sie an die Dämonen ihrer Kindheit, die sich im Dämmerlicht zu beugen schienen.

Aber was war mit den Seepferdchen? Diese eigentlich recht einfarbig, hellgrauen Fische mit den fächerartigen Flossen leuchteten plötzlich in allen Regenbogenfarben und das im ständigen Wechsel. Und wurden sie nicht auch unter ihren Blicken größer und kleiner? Der Schweiß lief Renate in ihre Augen und bewirkte weitere Sinnesstäuschungen.

Voller Panik verließ Renate jetzt ihre Wohnung, stürzte vor dem Regen Schutz suchend unter die große Eiche im Hof, in die in diesem Augenblick ein Blitz einschlug. Ihr Kreuz an der Silberkette zog die immense Elektrizität an, und sie, die sich immer vor Gewitter geradezu panisch gefürchtet hatte, erlag wie zum Hohn der Kraft ihres Schutzamuletts.

 

 Urlaub nach Wunsch

 

von Evelyn Lenz

 

Ich hatte meinem Mann vorgeschlagen, mal wieder in Urlaub an einen Ort am Meer zu fliegen, hauptsächlich auch, um zu sehen, ob unsere Ehe noch zu retten war.

“Also ich organisiere gar nichts“, meinte er sofort. „Wenn du dich um alles kümmern willst, meinetwegen.“

Ich seufzte, genau dieses Verhalten hatte mich in den letzten Jahren zur Verzweiflung gebracht.

Aber ich wollte ans Meer, also übernahm ich die Sache.

Gleich bei unserem ersten Spaziergang am Strand, zu dem ich ihn erst wieder überreden musste, fand ich ein Seepferdchen und hätte vor Freude laut singen mögen.

Ob das ein gutes Zeichen war?

Wir hatten herrliches Wetter und genossen wundervolle Stunden am Wasser, zumindest ich genoss die Stunden.

Ich schwimme ja gern im Meer, während meinem Mann eher mulmig wird, wenn er keinen Boden mehr unter den Füßen hat.

Überhaupt war er in den letzten Jahren immer ängstlicher oder bequemer geworden, was überwiegend zu unseren Eheproblemen geführt hat. Er wollte kaum mehr etwas unternehmen, es war ihm alles zu anstrengend geworden, alles zu kompliziert.

Ich hatte immer mehr Planungen und Aufgaben übernehmen müssen, sodass ich mich fragte, wo mein Partner war, wenn mehr oder weniger alles auf mir lastete.

Nach ein paar Tagen fing er schon wieder an zu nörgeln: „Meine Güte ist die Sonne heiß, ich will hier gar nicht den ganzen Tag am Wasser hocken.“

Und am nächsten Tag: „Der Wind ist zu kalt, um am Strand spazieren zu gehen.“

Und er genehmigte sich schon einen Schluck Wein. Ich riet ihm, doch statt des Alkohols lieber ein Stück Schokolade zu essen, das aktiviere Glückshormone. Meine Worte ignorierte er. Nun machte ich einen Vorschlag:

„Wir könnten doch mit dem Bus ins Städtchen fahren, dort kann man doch bestimmt bummeln und in einem netten Café sitzen.“

Da wurde er richtig aggressiv, übrigens nicht das erste Mal: „Das kannst du alleine machen, ich quetsche mich doch nicht in den bestimmt überfüllten Bus, nur um in eine blöde Stadt zu fahren. Die Touristenorte sind doch sowieso alle gleich.“

Am Abend wurde der Himmel plötzlich ganz schwarz und in der Ferne war Wetterleuchten zu sehen, das ich fasziniert betrachtete, während er murrend im Zimmer verschwand.

Am nächsten Morgen ließ ich ihn einfach nach dem Frühstück im Hotel und machte mich allein auf den Weg.

Es war ein bezauberndes Örtchen, natürlich touristisch mit den vielen kleinen Lädchen und Cafés und Restaurants.

In einer kleinen Gasse entdeckte ich ein Antiquitätengeschäft. Als ich da ein bisschen herumstöberte, fand ich in einer dunklen Ecke ganz verstaubt ein altes bemaltes Holzpferd.

Das erinnerte mich an meine Kindheit, als mein Großvater mir mal so eines geschnitzt hatte. Aber kaufen wollte ich es dann doch nicht. Was sollte ich damit?

Dann setzte ich mich in der Fußgängerzone, die wunderschön mit Bäumen eingerahmt und mit überall aufgestellten Blumenkästen so hübsch zum Verweilen einlud, in ein Straßencafé.

 

Ich genoss es, die Vorübergehenden zu beobachten und meinen Gedanken freien Lauf zu lassen. Ich fühlte mich so wohl ohne diesen griesgrämigen Mann. Ohne ihn wäre es sicher ein sehr schöner Urlaub. Dieser Mensch ist mit sich und der Welt nicht mehr zufrieden. Mann, dann soll er doch abtreten. Am liebsten wäre mir, der würde verschwinden, dann hätte ich ganz gewiss noch eine wundervolle Zeit.

Schweren Herzens nahm ich den Bus zurück zum Hotel.

Als ich ins Zimmer kam, war es leer, aber seine Sachen noch da. Er war auch nirgends im Hotel zu finden, niemand hatte ihn gesehen. Auch am nächsten Tag blieb er verschwunden, als habe er sich in Luft aufgelöst.

So werden manchmal Wünsche wahr!

 

Das Holzpferd
von Ute Seiderer

 

Dieses kleine Holzpferd in der Auslage des Antiquitätengeschäftes verfolgte sie schon seit längerem. Jeden Morgen, wenn sie auf dem Weg zur Arbeit daran vorbeikam, stach es ihr in die Augen: schlank, blank poliert und von ebenmäßigem, edlen Holz – vielleicht Mahagoni? Aber heute war es schwarz! Wie konnte das sein?
Uma sah zweimal hin, und noch ein drittes Mal, aber das Holzpferd war schwarz! Sie nahm sich vor, heute Abend, auf dem Heimweg, noch einmal an dem Laden vorbeizugehen. Vielleicht war sie noch benommen vom Wein, den sie gestern Abend mit ihrem Mann getrunken hatte… Sie hatten sich nach langer Zeit einmal wieder richtig gut verstanden, es war ihnen nach Singen zumuten gewesen, und von Glas zu Glas hob sich die Stimmung… Sie waren noch rausgelaufen in die laue Nacht, nur die dünnen T-Shirts am Körper, dem Wetterleuchten entgegen, sie liefen immer schneller, raus aufs Feld hinter dem Haus, sie spielten Verstecken und Fangen wie früher, als sie noch klein waren, sie sprangen hoch und höher, breiteten die Arme aus, als höben sie ab zum Fliegen, und ließen sich dann in den feucht-warmen Acker fallen, der im Nachzucken der letzten Blitzlichter am Himmel glänzte wie dunkle Schokolade.
Damals, als sie das Seepferdchen machten und ihre Mütter sich in dem Kinderschwimmkurs kennengelernt hatten, damals hatte sich schon der Eifer eingestellt, schneller und besser zu sein als der andere, sie balgten sich und spritzten einander mit dem Chlorwasser voll, sie riefen ihre Namen laut und zogen die Vokale der Vornamen betont in die Länge, U-d-o und U-m-a, und Udo hatte sich immer ein kleines Holzpferchen gewünscht, aber bekam es nie von seinen Eltern.
Natürlich waren sie inzwischen aus dem Holzpferdchen-Alter herausgewachsen. Aber da sie keine Kinder bekommen hatten, hatte sich auch in den langen Jahren ihrer Ehe keine geeignete Gelegenheit ergeben, sich ein solches Holzpferd zuzulegen. Schade
eigentlich, dachte Uma, die kürzlich einen Workshop besucht hatte, in dem es darum ging, dass man sich doch im Erwachsenendasein regelmäßig um sein inneres Kind kümmern solle, um so zu mehr Ausgeglichenheit und Zufriedenheit im Leben zu gelangen.
Deswegen trug sie sich seit ein paar Tagen mit dem Gedanken, ihrem Udo den einstmaligen Kinderwunsch zu erfüllen… aber ein schwarzes Pferd? So hatte sie es sich nicht vorgestellt! Es sollte hölzern-braun sein, wie in der Auslage des Antiquitätengeschäfts – bis gestern.
Als sie abends auf dem Heimweg wieder an der Auslage vorbeikam, war das Holzpferd immer noch schwarz, und als sie weiterhin irritiert vor ihrem Einfamilienhaus stand, den Schlüssel ins Schloss steckte, aufsperrte und eintrat, war von Udo weit und breit nichts zu sehen.
Sie lief durch alle Räume, in der unteren Etage, in der oberen Etage, ins Dachzimmer ganz oben, in dem sie schliefen, klopfte an der Toilettentür, schaute in den Keller, rief seinen Namen, erst leise, dann laut und lauter, wie früher, sie dehnte die Vokale seines Vornamens, sie rief mit heller und dann wieder mit dunklerer Stimme, die Stimme überschlug sich, Entsetzen packte sie und eine düstere Vorahnung – aber das konnte doch nicht sein!
Sie lief zurück in die Küche, gleich neben der Eingangstür – da sah sie auf dem Küchentisch einen handbeschriebenen Zettel und daneben das kleine braune Holzpferd aus dem Antiquitätengeschäft stehen. Mit zitternder Hand nahm sie den Zettel auf (hoch) und las: „Ich muss noch etwas aus meiner Kindheit nachholen. Bin für eine Weile weg. Mach dir keine Sorgen und suche nicht nach mir. Udo“

Grün-violett gestreiftes Piercing - Texte der LIT-Mitglieder nach sieben Vorgaben

brüchig, Rolltreppe, Pralinen, Hosianna, grün-violett gestreift, Brille und Piercing -

das waren die von der LIT-Gruppe vorgeschlagenen Wörter, die zu einem Text oder Gedicht verarbeitet werden sollten! Nachstehend die Ergebnisse:

Hosianna
von Ursula Schorsch


Er betrat die Rolltreppe, um im Einkaufszenter schnell während seiner Mittagspause die Pralinen für seine Frau, es war ihr Hochzeitstag, einzukaufen und sein brüchiges Brillengestell  gegen ein ultramodernes austauschen zu lassen. Wie würde seine Frau staunen!! Da fiel sein Blick auf die grünviolettgestreiften  Leggings  vor ihm. Die Besitzerin dieses Kleidungsstückes interessierte ihn.  Schon schweiften seine Augen  von den Leggings zum Gesäß, wohlgeformt, wie er fand. Am liebsten hätte er es berührt.  Er sah ihre ausladenden Hüften, die enge Taille. Ob er auch ihr Gesicht sehen könnte?  Die gestreiften Leggings spazierten auf die Rolltreppe zur 2. Etage genau wie er. Hosianna! Sie sah sich um. Er bemerkte ihr Piercing im Nasenflügel. Interessant, charmant. Dann erst sah er die breiten Backenknochen, das fast männliche Gesicht.  Ach Gott,  ein Mann, ein Transvestit.  Beschämt ging er am Optikerladen vorbei und betrat irritiert  die Parfumerie daneben. Welches Herrendeo sollte er nehmen? Später wunderte sich Ilse, warum er ihr nicht die obligaten Hochzeitstagpralinen mitgebracht hatte, sondern  ein zu stark parfumiertes  Männerdeo?  Sie heuchelte trotzdem Freude.

Das Rendezvous

von Gerhard Weil

Warum er sich zu einem „blind date“ oben auf dem Bahnhof Friedrichstraße verabredet hatte, erschien ihm schon fragwürdig, als die S-Bahn aus Lichtenrade unten im Tunnel einlief. Der Zug, der Bahnsteig, alles knallvoll, die Stimme des Bahnaufsehers klang brüchig, als er – wie üblich – Zugverspätungen, Schienenersatzverkehr und weitere Ausfälle verkündete.
Natürlich war auch die Rolltreppe hinauf wieder mal defekt. Mit Menschenmassen kletterte er bei beachtlichem Gegenverkehr die Granitstufen nach oben – erst auf die Straßenhöhe mit den zahlreichen Imbissen, dann weitere Stufen auf den Bahnsteig der Stadtbahn. Seine Brille war bereits leicht beschlagen, mit klebriger Hand umklammerte er den Kasten mit Pralinen. Wie sollte er bei diesem Gewühl eine Endvierzigerin mit roten Haaren – das einzige Erkennungszeichen – aufspüren?
Doch Hosianna! Am anderen Ende des Bahnsteigs erspähte er eine Rothaarige, die ihm den Rücken zukehrte und in ein grün-violett gestreiftes Strickkleid gehüllt war.
Aus Erfahrung klug geworden, lief er nicht direkt auf die Dame zu, sondern schob sich in einem Menschenpulk seitlich an ihr vorbei.
Aus einiger Entfernung konnte er nun erstmals ihr Gesicht erkennen: Was war denn das? Piercings – in den Augenbrauen, Ohren, an der Nase, unter dem Mund. Bei einer Endvierzigerin!
Unser Held machte kehrt, verbarg die Pralinenschachtel verstohlen an der Seite und strebte die defekte Rolltreppe an.
Das war’s mal wieder!

Oma im Zwiespalt

von Helga Gensow

 

Sie stand wartend am verabredeten Platz am Fuße der Warenhaus-Rolltreppe, der brüchigen Altmännerstimme eines Musikanten vor dem Eingang lauschend. Wie immer trug sie die leicht verschlissene grün-violett-gestreifte Jacke.

Trotz ihrer dicken Brille erkannte sie ihre Enkeltochter erst, als diese dicht vor ihr stand, ihr wortlos ein Blatt Papier entgegenstreckend. Sie fühlte sich bedrückt, hatte sie doch in einem Anfall von großmütterlicher Liebe der Enkelin für den Fall, dass sie in der ungeliebten Mathe-Arbeit eine 1 schreiben würde, die Bezahlung eines Schulter-Piercings versprochen. Sie fühlte sich hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, die Enkelin möge eine 1 schreiben, und dem Wunsch nach einer naturbelassenen Schulter. Zögernd ergriff sie das Papier, „Hosianna“, nur eine 2. Mit einem erleichterten Lächeln nahm sie das Mädchen in den Arm. Sie würde ihr als Trostpflaster den größten Karton der edelsten Pralinen kaufen, die das Warenhaus zu bieten hatte.

Groß ist mein Beschützer

 

copyright by Eva Horn

Brüchig ist meine billige, alte Brille                          
Vorsicht ist geboten beim Rolltreppe fahren               
Hosianna! Gelobt sei Gott                                         
Dank Dir ist mir nichts passiert
Ich bin sehend und unversehrt

Und wann sieht man so beängstigende Dinge
wie grün-violett gestreifte Monster?                          
Du Herr sagst Hände weg von den Drogen
Ich lernte selbst bei Pralinen ist Vorsicht geboten      
ihr Genuss führt sonst geradewegs zur Völlerei
Hosianna! Gelobt sei Gott
Du gabst mir die Kraft zu widerstehen

So habe ich meinen Weg unbeschadet
und ohne Zwischenfälle zurückgelegt
Dank Dir bin ich nun pünktlich zu meinem Termin
im Piercing-Studio angekommen....                         

Pralinen

von Evelyn Lenz

Der Kommissar des Morddezernats stand auf dem kleinen, fast verfallenen Bootssteg und spähte unter Zuhilfenahme seiner schwarz umrandeten Brille durch die schon sehr brüchigen Holzplanken.

Dort unten hatte ein junger Mann in grün-violett gestreiftem Pulli die Leiche entdeckt.

Auf die Frage, was er an einem solch windigen Tag hier zu suchen habe, antwortete der nervös an seinen Fingernägeln kauende etwa zwanzigjährige Mann, dass er diesen morschen Steg gerade noch erreicht habe, bevor sein kleines Schlauchbötchen untergegangen wäre.

Er zitterte und die Zähne schlugen aufeinander, denn in den letzten zwei Stunden war es sehr frisch geworden.

Kommissar Späher betrachtete das Bürschchen genau durch seine Brille und schloss eine Mordtat durch diesen Hänfling aus. Eine letzte Frage richtete er nur noch aus Routine an ihn. Was er denn auf dem See gemacht habe bei diesem kalten Wetter. Vor ein paar Stunden schien die Sonne und er sei hinaus gepaddelt, um auf dem See zu entspannen, als Luft aus dem Boot entwich. Auf den letzten Metern hatte er schwimmend die zusammengefallene Gummihaut an den Steg gezogen und das Mädchen entdeckt.

Man hatte Kommissar Späher an den Tatort geschickt, weil man annahm, dass es sich nicht um einen natürlichen Tod handelte.

Das Mädchen, etwa 16 Jahre alt, musste bei seinem Auffinden schon einige Stunden tot gewesen sein. Allerdings war es nicht ertrunken, wie man später bei der Autopsie feststellte, sondern man hatte noch im Hals steckende unzerkaute Pralinen mit ganzen Mandelkernen gefunden. Der Teenager war vermutlich an diesen Pralinen erstickt. Im Magen fand man weitere Schokoladenreste.

Kommissar Späher betrachtete das vor ihm liegende Mädchen. Der Pathologe zeigte ihm ein originelles Schmuckstück. Dieses Piercing habe das Opfer am Bauchnabel gehabt. Es sah aus wie eine mit dreifarbigen Blättern umschlossene Blüte. Die Blätter schienen aus Rot-, Weiß- und Gelbgold zu sein und die Blüte bestand aus einem blutroten Rubin.

Ein erlesenes Stück, aber an versteckter Stelle, überlegte der Kommissar. Er befand sich schon auf dem Rückweg zu seinem Büro und fuhr gerade die Rolltreppe zur Lebensmittelabteilung des Kaufhauses hinab. Er musste sich noch etwas zu essen kaufen, denn sein Arbeitstag würde vermutlich noch lange nicht beendet sein.

Es musste herausgefunden werden, wer die Jugendliche war, ob sie eventuell an Allergien litt. Es gab ja heutzutage Allergien gegen alles Mögliche, Nüsse, Äpfel, vielleicht auch gegen Mandeln. Vielleicht war der Tod wegen einer allergischen Reaktion auf die Mandelpralinen zurückzuführen. Oder war es doch Mord? Vielleicht waren dem Mädchen die Pralinen gewaltsam hineingestopft worden, weil sie unzerkaut waren. Oder hatte eine Allergie gegen die bereits im Magen befindlichen Pralinen den Tod herbeigeführt? Das erklärte aber wahrscheinlich nicht die noch im Mund und vor allem in der Speiseröhre gefundenen ganzen Stücke.

Und vor allem, wieso fand man die Tote unter dem Steg? Wie kam sie dorthin? Das musste alles in den nächsten Tagen geklärt werden. Vielleicht wurde sie ja schon morgen von jemandem vermisst?

Für diesen Abend beendete Kommissar Späher seine Überlegungen. Morgen musste er mit dem Pathologen noch einmal über seine Gedanken sprechen. Vielleicht konnte der dann schon etwas Genaueres sagen.

Als er am nächsten Tag dorthin fuhr, kam ihm der Pathologe gerade entgegen: „Gut, dass Sie kommen, dort wartet schon jemand, der die Leiche identifizieren will“. Nach einem kurzen Kopfnicken, ohne ihn richtig anzusehen, folgte der Kommissar dem Mann. Als dieser das Mädchen sah, murmelte er ‚hosianna‘. Kommissar Späher glaubte sich verhört zu haben. Das sagte man doch nur in der Kirche! Als er nun näher trat, konnte er das Gesicht des Jugendlichen erkennen. Ein eigentümlicher Ausdruck lag darin, keine Traurigkeit, sondern Verzückung oder eher Entrückung, ein sonderbares Lächeln verzerrte das Gesicht und die aufgerissenen glasigen Augen richteten sich nun auf den Kommissar. Der junge Mann sagte nun ganz deutlich immer wieder ‚hosianna‘. Außerdem bemerkte Kommissar Späher nun unterhalb der linken Augenbraue genau das gleiche Piercing, das sie am Bauchnabel der Toten gefunden hatten.

Während der Polizeibeamte den Entschluss fasste, den Kerl für weitere Befragungen mit aufs Revier zu nehmen, lachte dieser plötzlich irre auf: „So ist ihr ihre verdammte Pralinensucht also zum Verhängnis geworden. Völlerei wird nicht geduldet.“

Der Bursche schüttelte sich vor Lachen, um im nächsten Moment hervorzubringen: „Das wollte ich eigentlich nicht. Ich habe ihr nur vor Wut die letzten Stücke in den Mund gestopft, weil sie so gierig mein Pralinengeschenk verschlang. Und dann fiel sie einfach um, rücklings ins Wasser, wie vom Schlag getroffen. Ich war ganz kopflos weggerannt. Konnte einfach nicht glauben, dass die Strafe von oben“, dabei schaute er an die Decke, „so schnell erfolgt.“

 

Gewusst wie

 

© Ute Seiderer

 

 

 

Können Sie sich vorstellen, was mich kürzlich, um die Mittagszeit, am Strand von Tel Aviv davor bewahrt hat, unablässig von Männern angesprochen zu werden? – Sie werden es nicht glauben, aber es war ein Packen Zeitungen! Ganz normale Tageszeitungen, darunter eine Jerusalem Post und eine Haàretz Izrael, die beim Aufschlagen und Umblättern jenes pergamentene und raschelnde Geräusch erzeugen, das man noch vom Frühstückstisch im Elternhaus kennt, und das an den betriebsamen Tagesbeginn des Vaters erinnert ...

 

Es war einen Tag nach Shabat: Ich nahm mir einen von diesen weißen Strandstühlen aus brüchigem und morschem Holz (kein Wunder bei der salzigen Luft, der sie ständig ausgesetzt sind), die dort zu jedermanns Verfügung herumstehen, klappte ihn auf, lehnte ihn gegen die mannshohe Mauer, die den schmalen, langen Stadtstrand von der Hauptstraße trennt, schlug meine behosten Beine übereinander, verschanzte mich hinter den gedruckten Bögen und begann zu lesen. Und es passierte ein kleines Wunder: Im Gegensatz zu den Wochen davor, in denen ich nur noch mit eingezogenen Schultern durch die Straßen und über die Rolltreppe in der Einkaufsmall schlich, in der Hoffnung, so unscheinbar wie möglich zu wirken (natürlich hatte ich mein schickes grün-violett gestreiftes Strandkleid nach ein paar Tagen ohnehin wohlweislich im Koffer gelassen), ständig in Abwehrhaltung also, weil ich wieder eine lästige Anbandelung befürchten musste, näherte sich mir kein einziger Mann mehr.

 

Zunächst einmal war ich noch zu erleichtert, um darüber nachzudenken, woran das liegen konnte, aber nach einiger Zeit dieser ungewohnten und ungestörten Muße lugte ich vorsichtig über die Oberkante meiner randlosen Brille und der Jerusalem Post hinweg, um die Lage genauer zu erkunden. Tatsächlich hielt sich die andere Spezies vorwiegend an der Wasserkante auf, suchte ganz offensichtlich nach Attraktionen weiblicher Natur – „Shalom!“ –, wanderte hin und her, warf mir aber keinen einzigen Blick mehr zu. Es war vor allem Zwi, der alte Schürzenjäger, der da unten wieder herumstreifte, und der sich meist als Politiker ausgab. In den letzten Tagen hatte er mich unablässig verfolgt. Nicht nur am Strand, und sogar am Shabat. Doch auch er machte den Eindruck, als bemerke er mich überhaupt nicht …

 

Zwi war ein attraktiver Mann, groß, schwarzhaarig und kräftig, und ich muss Ihnen sagen, dass ich ihm um ein Haar verfallen wäre. Piercings waren derzeit gottlob nicht sehr verbreitet, woraus Sie schließen können, dass er nicht viele am Körper trug (nur eines an jeder Brustwarze), aber für Casanovas hatte ich im Grunde immer schon etwas übrig, jedoch eher für ‚ungestylte’ und zurückhaltende, solche, die einem, nicht ohne Hintergedanken, Pralinen mitbringen und so tun, als ob sie furchtbar romantisch seien. Aber so ganz ohne Ambitionen … ohne jegliches Interesse offenbar … nicht, dass ich es ... nicht ernst meinen würde mit den Männern ... nun gut, wir Frauen sind vielleicht auch ab und zu etwas sprunghaft … ich habe mich doch jetzt nicht in eine widersprüchliche Aussage verstrickt …? Aber dass er plötzlich so gar kein Interesse mehr an mir zeigte …?

 

Zum Glück kam ich erst am Tag meiner Abreise auf diese Idee mit den Zeitungen. Hosianna!

 

Die Brille
von Ingrid Walter


Meine Brille mag mich nicht;
sie flieht vor meinem Angesicht.
Zwar wird sie jeden Tag geputzt,
doch glaubt ihr denn, dass das ´was nutzt?
Die Rolltreppen hab’ ich nicht gern,
denn ich bin etwas unmodern.
Als gestern ich auf einer stand,
ich eine Frau mit Piercing fand.
In jedem Nasenloch ein Ring,
auch an den Lippen war so’n Ding.
Am liebsten hätt’ ich sie gefragt:
Was tun Sie, wenn Sie Schnupfen plagt?
Doch plötzlich – ach, wie ärgerlich –
macht sich die Brille selbständig.
Sie sprang geschwind von meiner Nase,
wo war sie nun – oh weh, weg war `se.
Ob sie ein anderer wohl findet?
Denn ohne war ich fast erblindet.
Doch unten macht es plötzlich „knack“,
mein Nasenfahrrad war ein Wrack.
Ich musste schließlich mich  bequemen,
ein Taxi mir nach Haus zu nehmen.
Zu Hause gab’s für die Pupille
doch irgendwo noch eine Brille.
Wo ist das Biest, dacht’ ich verdrießlich.
Ich fand es auf dem Sofa schließlich
unter dem Lieblingssofakissen,
das leider doch schon recht verschlissen.
Die Erna hat es selbst gestickt,
das hat mich damals sehr entzückt,
Grünviolett-gestreift war es und hoch betagt.
Ich hab’ es bisher nicht gewagt,
das gute Stück mal zu entsorgen.
Stets sagte ich mir: Mach ich morgen!
Doch jetzt, was muss ich hier nun sehen?
Um die Pralinen war’s geschehen!
Ich will es hier freimütig sagen,
sie trösten mich an miesen Tagen.
Und so ein mieser Tag war heute,
weshalb ich mich schon darauf freute.
Doch hatt’ ich mich aus Kummer jetzt
auf die Pralinen draufgesetzt.
Die lagen nämlich, müsst ihr wissen,
ohne Verpackung unterm Kissen,
und auch die Brille lag dabei
und überall Pralinenbrei.
Doch alles Fluchen tat nichts nutzen,
ich musste nun die Brille putzen
und auch das Kissen, falls das geht,
doch heute war’s dafür zu spät.
Da sprach ich dann mit brüch’ ger Stimme:
An manchem Tag gibt’s nur das Schlimme!
Als endlich ich im Bette lag,
dacht’ ich: Hosianna, welch’ ein Tag!

Der Fall des Professors

von Ute Malkowsky-Moritz

Zuerst regnete es Pralinen, dann kam der Aufprall des hageren Körpers. Kommissar Rainer Zufall war, seinem Namen getreu, wieder mal zur rechten Zeit am rechten Ort. Er bückte sich zu dem Mann am Boden der Rolltreppe, der mit brüchiger Stimme noch ein leises „Hosianna“ von sich gab, ehe er verschied. Später, als Zufall erfuhr, dass es sich um einen Theologieprofessor handelte, dachte er noch: „Ein würdiges Abschieds-wort für einen Mann dieser Zunft!“

Erschüttert richtete Zufall sich auf und schaute auf das groteske Bild zu seinen Füßen: Der Mann lag da inmitten der verstreuten Pralinen, mit verrenkten Gliedern, seine Brille hing zersplittert noch mit einem Bügel an einem Ohr und sein langer grün-violett-gestreifter Schal wirkte wie eine exotische Schlange, die ihr Opfer erwürgt hatte.

„Wahrscheinlich war es wirklich so!“, dachte Zufall sarkastisch. „Wahrscheinlich hat dieser idiotische viel zu lange Schal den Mann zu Fall gebracht.“

In diesem Moment erschien sie auf der Bildfläche: Eine mollige Frau so Anfang 60, die hörbar schnaufte. „Ich“, japste sie, „ich hab es genau gesehen. Es – japs – war dies Mädchen mit dem Piercing!“

2

 

Sofort erwachte Zufalls Professionalität. „Können Sie das bezeugen?“, fragte er und zückte Notizblock und Bleistift. Es war der Stift mit der brüchigen Mine, den er auswechseln wollte. Zufall seufzte. Andere Kollegen benutzten längst elektronische Aufzeichnungsgeräte, aber er hielt nichts davon.

„Natürlich kann ich das bezeugen“, bekräftigte die Frau mit einem letzten Schnaufer und setzte dabei ihre Brille gerade.

„Da, auf der Rolltreppe war es.“ Sie zeigte nach oben und tat einen Schritt zurück. Dabei trat sie auf eine Praline, wischte sich das klebrige Ding umständlich von ihrem Schuh und keifte: „Dieses Gör mit dem Piercing hat sich an dem Mann vorbei-gedrängelt und ihm einen Schubs gegeben.“

„Sind Sie sich da sicher? Das ist eine ernsthafte Anschuldigung, die Sie da vorbringen!“, hakte Zufall nach.

„Natürlich bin ich mir sicher! Die heutige Jugend ist so rücksichtslos! Das hier ist wieder mal ganz typisch. Der arme Mann!“ Kummervoll blickte sie auf den am Boden Liegenden.

„Was für ein scheußliches Ding er da hat! Grün-violett-gestreift!“, schnaufte sie verächtlich und schüttelte den Kopf.

„Ist er tot?“ Zufall nickte kurz.

„Hat er noch was gesagt?“, fragte die Frau kaum hörbar.

Zufall dachte an das „Hosianna“, aber was ging das diese Frau an?

So zuckte er nur unbestimmt mit den Schultern.

3

„Ick har den Mann nischt jetan“, wiederholte Mandy ungeduldig.

„Wie oft soll ick'n det noch saren?“ Sie strich sich über ihr Piercing im linken Nasenflügel – Zeichen für ihre Aufregung.

„Wat hat die olle Schnalle jesacht? Ick soll den Typ von'e Rolltreppe jeschubst ha`m? Den Alten mit diesen eklijen jrün-violett-jestreiften Schal? Der Pralinen je-futtert hat? Die spinnt doch, die soll sich nur ihre Brille ma richtig putzen, die olle Zicke!“

„Keine Beleidigungen!“, sagte Zufall streng und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, dass das brüchige Leder laut knirschte. Das Mobiliar in diesem Büro stammte noch von seinem vor-Vorgänger, wenn nicht aus biblischer Vorzeit. „Hosianna!“, kam ihm dabei in den Sinn.

4

Noch gestern, gleich nach dem Verhör, hatte er Mandy, das Mädchen mit dem Piercing laufen lassen. Ihre Personalien waren festgestellt, Fluchtgefahr bestand  nicht und außerdem hielt er sie sowieso für unschuldig. Ihre Empörung erschien ihm echt, mit der sie auf die Anschuldigung von Frau Gundlich reagiert hatte.  Paula Grete Gundlich hieß sie mit vollem Namen, ihre Personalien hatte er selbst  gleich am Tatort festgehalten.

Jetzt war er auf dem Weg zum Haus des Professors. Von dem Polizeibeamten, der gestern die Todesnachricht überbringen musste, wusste Zufall, dass es „nur“ eine Haushälterin gab, keine Familie. Trotzdem atmete er tief durch, als er das brüchige Holz des Gartentors berührte, das Tor vorsichtig öffnete und auf das Haus zuschritt. Es war ein nettes kleines Haus mit Walmdach und adrettem Gärtchen davor. Bevor er noch klingeln konnte, öffnete sich schon die Haustür. Eine Frau trat heraus, die in ihrer Schulzeit sicher als „Bohnenstange“ gehänselt worden war. Vielleicht rührte daher auch ihr säuerlicher Gesichtsausdruck, dachte Zufall. Eine dunkel eingefasste Brille verstärkte den Eindruck noch. Sie leitete Zufall in einen kleinen Raum, der mit Bücherregalen voll gestellt war.

„Sein Arbeitszimmer, erklärte sie überflüssigerweise.

Er schaute in seine Unterlagen. „Sie heißen Irmtraud Starnberg und sind, ähm waren seine Haushälterin?!“

Sie nickte. „Ich kann es noch gar nicht fassen. Wie schrecklich das ganze! Von der Rolltreppe gestürzt. Ich seh' das Bild genau vor, wie er da liegt  mit seinem grün-violett-gestreiften Schal...“

 Zufall hakte nach: „Trug er den häufig?“

„Ständig!“, stöhnte sie, „Er ging nie ohne dies grässliche Ding weg, es war wie ein  Talisman, das Abschiedsgeschenk von ihr.“      „Ein Abschiedsgeschenk? Von wem?“

„Na, von ihr, dieser Hexe, dieser falschen Schlange..“

„Von wem reden Sie? Könnten Sie bitte etwas sachlicher werden?“ Die Haushälterin fuhr zusammen. „Entschuldigen Sie. Es handelt sich um eine gewisse Xenia Ngomo, eine zwielichtige Person. Sie hat den Herrn Professor verhext, wenn Sie mich fragen. Irgendwie hatte er einen Narren an dieser Schwarzen gefressen, brachte sie von einer Afrika-Reise mit.“

„Wohin brachte er sie mit? Hierher? Sie lebte in diesem Haus?“

„Das will ich meinen! Ein Jahr lang musste ich das fremde Weib in meinem Haus dulden!“  -  „Das Haus gehört Ihnen?“, fragte Zufall erstaunt. Die Frau wurde rot. „Nicht direkt, aber ich lebe immerhin über 30 Jahre hier und betreue den Herrn Professor und da kommt so ein Flittchen...“

 „Wollen Sie damit andeuten, dass die zwei ein Verhältnis hatten?“

„Und ob sie das hatten! Obwohl ich den Herrn Professor immer und immer wieder gewarnt habe... Und jetzt ist er tot... Sicher hat sie ihre Hände im Spiel. Mit irgend einem Woodoo-Zauber oder auch mit Gift? Die Pralinen! Haben Sie die Pralinen auf Gift überprüft?“ Als Zufall nach Ende des Gesprächs zur Tür trat, bemerkte er das Spruchband, das darüber angebracht war: „Hosiannah in der Höhe“.

Noch den ganzen Weg zu seinem Auto schüttelte er den Kopf: So viel dummes Zeug hatte er schon lange nicht gehört!

5

„Xenia Ngomo?“, fragte Zufall. Sie nickte unmerklich, trat beiseite und ließ ihn herein. Der schmale, dunkle Flur führte zu einem kleinen Zimmer mit spartanischer Einrichtung: Bett, Tisch, zwei Stühle. Sie setzten sich an das wackelige Tischchen. Die Frau saß kerzengerade. Sie war schlank, hochgewachsen und jung. Zufall schätzte sie auf Mitte 20. Anfang 30 erfuhr er später aus den Akten. Damit war sie halb so alt wie der Professor gewesen war. Ihre Augen konnte Zufall nicht sehen, denn sie trug eine dunkle Sonnenbrille. Es irritierte ihn, ebenso wie ihr afrikanisches Gewand: Grün-violett-gestreift, der selbe Farbton wie der bewusste Schal... Sofort hatte er wieder das Bild vor Augen: Die verrenkte Gestalt am Boden der Rolltreppe inmitten der Pralinen.

„Sie haben Fragen?“, eröffnete sie das Gespräch und holte ihn so in die Gegenwart zurück.     „Ja. In welchem ähm, Verhältnis standen Sie zu Professor Althaus?“

„Wir waren ein Paar,“ sagte sie schlicht.

„Sie unterhielten sexuellen Kontakt?“, fragte Zufall nach und merkte, wie er bei ihrem spöttischen Lächeln rot wurde. Verdammt, das war ihm lange nicht passiert.

„Ich muss das fragen“, ergänzte er und hörte selbst den Trotz aus seiner Stimme.

Sie nickte nur müde.                   „Wann und warum beendeten Sie Ihre Beziehung?“

„Was meinen Sie?“ - „Warum sind Sie ausgezogen?“

„Das war wegen ihr.“ Sie zog ihre Mundwinkel herab und es war klar, dass sie von der Haushälterin sprach. „Sie hat alles getan, um uns auseinander zu bringen. Ich habe es irgendwann nicht mehr ausgehalten, deshalb haben wir uns hier getroffen.“

„Sie waren also noch mit ihm zusammen? Bis zu seinem Tod?“

„Er hat mich freigekauft, alles für mich riskiert, damit ich wegkam aus der Hölle, in der ich in Afrika lebte. Er hat mein Leben gerettet. Er war mein Leben.“

Mit diesen Worten schob sie die Brille zurück. Er sah ihre rotgeweinten Augen und das Piercing an der rechten Augenbraue: Ein kleiner goldener Ring. Sie berührte den Ring und wiederholte mit brüchiger Stimme: „Wir waren ein Paar!“

Zufall stand auf, berührt von ihrer Trauer. Beim Hinausgehen bemerkte er über der Tür dasselbe Spruchband wie im Hause des Professors: „Hosiannah in der Höhe!“

 

6

„Was soll mit den Pralinen sein? Vergiftet?“, gluckste Dr. Hecht. „Ich meine ja nur,“ knurrte Zufall ärgerlich, dass er den Blödsinn der Haushälterin aufgegriffen hatte. Aber schließlich mussten sie allen Hinweisen nachgehen, auch den verrücktesten. „Du meinst doch den Toten an der Rolltreppe, diesen Typen mit dem grün-violett-gestreiften Schal?“ - Zufall nickte dem Telefonhörer zu, immer noch ärgerlich. „Ja,  den.“ Hecht sprach nicht weiter. Er putzte jetzt seine Brille, wusste Zufall und er hasste diese künstlichen Verzögerungen in Hechts Berichterstattungen. Er betrachtete seine brüchigen Fingernägel. Müssten geschnitten werden. „Was hat das Verhör mit dem Piercing-Girl ergeben?“, fragte es endlich aus dem Hörer. „Dasselbe wie die Gespräche mit der Haushälterin und der Geliebten: Nichts. Ich wollte Neuigkeiten von DIR!“ - „Na, Schädelfraktur, was sonst? Oder dachtest du, dass ihn die Schnapspralinen weggerafft haben? Die mit Gift gefüllten?“, kicherte Hecht. „Zum Teufel mit dem Kerl!“, entfuhr es Zufall, nachdem er den Hörer auf die Gabel geknallt hatte. Und dann dachte er noch: „Hosiannah“, zum Ausgleich.

 

7

„Komm rein!“, sagte Irmtraud schroff und knallte die Tür gleich hinter Paulas molliger Gestalt wieder zu. Die Haushälterin stapfte voran ins Arbeitszimmer. Dort fuhr sie die Besucherin an:  „Das war so nicht abgemacht!“

„Abgemacht, abgemacht“, schnaufte Paula Gundlich aufbrausend, „dann hättest du die Sache am besten allein erledigt!“ Aufgeregt putzte sie ihre Brille, setzte sie dann wieder auf und musterte ihr Gegenüber streng.

„Ich wollte nur mit ihm reden“, fing sie wieder an, als die andere nichts sagte. „Aber er ging einfach an mir vorbei, hochnäsig wie er war, das weißt du doch am besten! Und schwupp, schon war er auf der Rolltreppe. Als ich ihn an seinem bescheuerten Schal zog, verlor er das Gleichgewicht ich konnte ihm gerade noch ausweichen, als er fiel. Hätte er nicht die Pralinenschachtel in der Hand gehalten, hätte er sich festhalten können.“

Aus dem Sessel neben ihr schluchzte es.       „Mensch, Irmtaud, reiß dich zusammen!“

„Du hast ihn getötet!“ - „Wie kannst du so etwas nur sagen! Es war ein Unfall! Und ich habe es doch für dich getan!“ , rief Paula und alle Farbe war aus ihrem sonst so geröteten Gesicht gewichen. „Für dich und er hatte es verdient, wortbrüchig wie er war. Ist immer noch zu ihr geschlichen und sie wollte wieder hier einziehen, denk daran!“ Irmtaud nickte ergeben.

„Aber jetzt bist du sie los, die schwarze Schlampe. Musst sie nie wieder sehen, nichts Grün-violett-gestreiftes mehr, kein Piercing wie ein Ehering und auch ihren Kosenamen musst du nie mehr hören!“

„Sprich ihn nicht aus!“ zischte Irmtaud und beide Frauen blickten auf das Spruchband über der Tür, wo jetzt nur noch ein „..in der Höhe“ zu lesen war. Der erste Teil des Spruches war abgerissen und lag nun auf dem Boden unter Irmtauds Füßen:

Hosiannah“.                                          © Ute Malkowsky-Moritz, Juni 2011

Amirs himmlische Paarbildung

Eine Geschichte mit 7 LIT-Wunsch-Worten, nämlich:

brüchig, Rolltreppe, Pralinen, Hosianna, grün-violett gestreift, Brille und Piercing!

 

© Gaby Scholz

 

Die Versetzung von der Weihnachtsengelabteilung in die Liebesengelabteilung traf Amir wie ein Pfeil! Als Weihnachtsengel sei er nun zu alt. Er solle fortan Leute verlieben!

„Pfff … Diese Menschen brauchen offenbar in jeder Lebenslage himmlische Hilfe!“, stöhnt er.

Nun lauert Amir auf einem brüchigen Ast eines alten Kirschbaums, der als Frühlings-Deko im Kaufhaus herhalten muss. Von hier hat er den besten Überblick über sämtliche Bekleidungsstücke und über den stetigen Strom Kaufwütiger – dank Rolltreppe.

Seufzend zieht der frischgebackene Liebesengel aus seinem Umhängeköcher mit der Aufschrift ‚Amors Grundausstattung‘ einen Pfeil hervor und betrachtete ihn skeptisch.

„Also gut“, mault er. „Der Himmel hat’s nicht anders gewollt! Und vielleicht macht’s ja Spaß?“

Er spannt den Bogen, kneift ein Auge zu und zielt lustlos in die Menge. Dann, bei einem Drehgestell mit furchtbar grün-violett gestreiften T-Shirts, folgt der Abschuss! Zack, schon getroffen!

Amir fällt vor Lachen fast vom Baum. Das kalkfarbene Gesicht von dem dünnen Brillenträger wirkt erstaunt, so seltsam aufgeschreckt. Wie angepiekt dreht er sich um. Jedoch eine Schrecksekunde später fummelt er erneut an einem dieser grässlichen T-Shirts herum.

Amüsiert zieht Amir einen zweiten Pfeil aus seinem Köcher, spannt bedächtig den Bogen, kneift ein Auge zu und visiert mit dem anderen seine nächste Liebesbeute an. Wie wär’s mit der dicken Dame da? Oder – viel besser! – diese Blondine dort? Doch gerade, als Amir den Pfeil abschießen will, dreht sie sich um.

„Ups, typischer Anfängerfehler!“, grinst Amir. „Diese Blondine ist … männlich.“

Also lässt der Himmelsbote seinen Pfeil weiter über die Menge streifen.

„Oh danke, Gott!“, jubiliert Amir plötzlich. „Da verirrt sich tatsächlich noch jemand zu den grottigen Streifen-Shirts. Es ist … eine junge Frau! Jawoll! Ich mag schnelle Jobs, juchhuuu! Uuund … Abschuss!“

Der Pfeil … trifft.

Die Frau sieht hoch, starrt irritiert den blassen Jüngling an – und er … starrt zurück.

„Hallo“, hauchen beide und mustern sich verblüfft.

Amir horcht auf ihre Gedanken.

„O-oh, ich steh so gar nicht auf Kalkleiste mit Brille!“, denkt sie doch tatsächlich.

Piercing in der Augenbrauen, eye kotz!“, denkt er wiederum echt angewidert.

Wütend schickt Amir den beiden einen Gedanken: „Hey, Freunde, ihr steht auf eklig-grün-violette Streifen-Shirts! Kapiert?“

Prompt greifen beide je ein T-Shirt und trotten zur Kasse. Die Warteschlange ist lang. Amirs Liebesopfer stehen dicht beieinander.

„Schön, dass wir den gleichen Farbgeschmack haben“, säuselt sie und findet mit einem Mal, dass seine Blässe nett vornehm wirkt und seine Brille kaum auffällt.

Er nickt errötend, weil er sich vorstellt, an welch entzückenden Körperstellen sie vielleicht noch Piercings haben könnte?

Amir schüttelt grinsend den Kopf.

In dem Moment nestelt der junge Mann aus seiner Umhängetasche eine Schachtel Pralinen, die er eigentlich für seine Mutter gekauft hat. Jetzt jedoch überreicht er mit großer Geste ihr die Süßigkeit.

„Ich danke dir, mein Mon Cherie!“, witzelt sie und denkt: „Wow, der Mann geht ran! Mmmh … wie er wohl im Bett ist?“

Während er im Stillen feststellt: „Eigentlich fällt das Brauen-Piercing kaum auf. Außerdem frisst die Süße mir schon aus der Hand! Ob sie gut im Bett ist?“

Und Amir – hoch oben im Baum – frohlockt. „Ha, mein erster Paarbildungsauftrag ist ein wahrer Volltreffer! Hosianna, ich bin der geborene Liebesengel!“

Begeistert zückt Amir den nächsten Pfeil und zielt damit auf … dich? Und … dich?